Wie die Pilze in Scharen aus feuchtem Waldboden ploppen, kamen im letzten halben Jahr Ratgeber übers Waldbaden in die Buchläden. Aber wie funktioniert Shinrin-yoku, wie es in seinem Ursprungsland Japan heißt? Nur lesen finde ich langweilig. Ausprobieren ist besser. Wie schön, dass ich im wunderbaren Südtiroler Hotel Chalet Mirabell die Gelegenheit dazu bekam
Ich liebe den Wald und empfinde jeden Spaziergang dort wie einen kleinen Urlaub. Aber darin baden? Was soll denn das? Als ich mich im 5-Sterne-Hotel Chalet Mirabell (siehe unten) zum Seminar anmelde, habe ich viele Fragezeichen im Kopf. Muss ich jetzt etwa Bäume umarmen? Doch den Zahn mit der Esoterik zieht mir der Psychologe und Waldbade-Führer Martin Kiem schnell. Auf dem Weg in die Tiefen des unberührten Haflinger Laub- und Nadelwalds erklärt er mir, was hinter der Idee steckt, zwischen den Bäumen neue Kraft zu tanken.
„Waldbaden ist bewusstes entstressen in der Natur“, fasst Martin das Shinrin-yoko zusammen. Das heißt „Baden in der Atmosphäre des Waldes“ auf Japanisch. Den Begriff Shinrin-yoku prägte das Ministerium für Land-und Forstwirtschaft 1982. Seitdem raten Mediziner in Japan der Bevölkerung zu Ausflügen in den Wald als Bestandteil eines gesunden, entspannten Lebensstils, zur Burn-Out-Prophylaxe und zur Linderung von Depressionen und Angstzuständen. Viele Studien belegen mittlerweile die positiven Effekte der Medizin Wald auf unsere Gesundheit. So zeigte eine aus Japan: Bereits nach 20 Minuten sinkt der Wert des Stresshormons Cortisol deutlich im Blut, der Puls verlangsamt sich und der Blutdruck normalisiert sich. Eine Wohltat für unser Herz-Kreislauf-System! Dagegen wird das vegetative Nervensystem aktiv, das unter anderem für die Regeneration von Körper und Psyche verantwortlich ist. Aber damit nicht genug. Ein Forscherteam der Nippon Medical School Tokio unter der Leitung von Prof. Dr. Qing Li wies nach, dass sich durch das Einatmen der Waldluft bestimmte Killerzellen des Immunsystems messbar vermehren. Wie ist das möglich? Für diese Wirkung sind sogenannte Phytonzide verantwortlich. Diese Stoffe geben Bäume in die Luft ab, um Schädlinge abzuwehren – und schützen so auch uns. Eine schöne Symbiose von Baum und Mensch, die aber damit noch lange nicht beendet ist, wie Martin mich später noch mit einer Übung spüren lässt.
Nach circa einer halben Stunde haben wir einen fast verwunschen anmutenden Teil des Waldes erreicht. Moose in silbrigen Grünschattierungen bilden einen weichen Teppich. Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg von den Baumkronen bis auf unsere Haut. Hier ist der Ort, an dem wir mit den Übungen beginnen. Zunächst lässt mich Martin mit dem Body-Sinnes-Scan (Anleitung, siehe unten) die Umgebung erfühlen. Das unterscheidet Waldbaden vom Meditieren. „Hier geht es nicht darum, das Außen auszublenden und sich ganz auf die Innenwelt zu konzentrieren. Wir wollen vielmehr die Natur in uns hineinlassen“, erklärt er. „Und haben wir erst einmal alle Sinne auf unsere Umgebung gerichtet, hat das Gehirn keine Ressourcen mehr, sich um Probleme zu kümmern.“ Logisch, dass schon allein das entspannt. Nach der Übung sagt er: „Jetzt ist dein Bewusstsein im Wald angelangt.“
Für alle ungeduldigen Menschen, die sonst nur durch den Wald Joggen, wird es jetzt herausfordernd. Denn beim Waldbaden ist totale Entschleunigung angesagt. „In drei Stunden legen wir ungefähr einen Kilometer zurück, während man im normalen Geh-Tempo circa vier bis fünf Kilometer schafft“, erklärt Martin. Klingt vielleicht langweilig, ist es aber nicht. Denn meine Aufgabe ist, die Natur wie ein Maler wahrzunehmen – mit all ihren Farben und Formen. Unfassbar, was einem in Slow motion plötzlich ins Auge springt: geschäftige Ameisen, die schwer an ihrer Beute schleppen. Kleine Blümchen, die sich durchs dichte Grün drängen…
Schließlich kommen wir zu der Übungen, vor der mir anfangs graute: Ich soll mit einem Baum in direkten Austausch gehen – bei der Baum-Atmung (Anleitung, siehe unten). Klingt komisch, ist es aber gar nicht mehr, nachdem Martin mir den Sinn des Ganzen erklärt hat: „Bäume produzieren durch Photosynthese Sauerstoff, den der Mensch zum Leben benötigt. Und wir geben beim Ausatmen Kohlenstoffdioxid ab, das die Pflanzen wiederum für ihre Energiegewinnung brauchen. Bei der Übung besinnen wir uns auf diese gegenseitige Abhängigkeit und begreifen, das wir Teil einer natürlichen Kette sind.“ Ich sitze unter einem Baum und tatsächlich stellt sich schnell Verbundenheit mit den mächtigen Riesen ein. Das geht so tief, dass ich nicht mal zusammenzucke, als mein Coach von mir verlangt, mit einem Baum zu kommunizieren (Anleitung, siehe unten).
Zum Abschluss des Seminars trinken wir bei einer kleinen Zeremonie im Wald Fichtennadel-Tee. Ich erzähle Martin, wie ich das Waldbaden erlebt habe: Es war wunderschön. Alles hat sich gut und natürlich angefühlt. Ich bin jetzt tiefenentspannt und ein warmes Gefühl der Geborgenheit fließt durch meinen Körper. Auf dem Rückweg aus dem Wald möchte ich von Martin wissen: „Wie oft sollten wir in den Wald gehen, um eine nachhaltige Wirkung zu erzielen? „Jeden Tag wäre ideal, aber dreimal pro Woche sind schon toll und einmal wöchentlich ist besser, als gar nicht“, sagt er. „Am besten macht man jeweils auch immer nur eine oder zwei Übungen, die einem zusagen.“ Wer keine Lust auf Übungen hat, kann natürlich auch nur so im Wald spazieren gehen. Mehrere asiatische Studien haben gezeigt, dass auch das einen positiven – wenn auch geringeren – Effekt auf die Gesundheit hat. Aber was tun, wenn kein Wald in der Nähe ist? Martin rät: Einfach in einen Park oder Garten gehen. Ein Baum genügt, um Stress abzubauen und die Eigenregulation zu stärken.“
Zum Nachmachen

Body- und Sinnes-Scan
Suchen Sie sich einen ruhigen Platz im Wald, an dem Sie sich wohlfühlen. Dann die Augen schließen und hören, was um Sie herum passiert: rascheln Blätter, brummt ein Insekt, zwitschert ein Vogel? Dann die Aufmerksamkeit aufs Riechen lenken. Wie ist die Luft? Vielleicht feucht und erdig? Wer möchte, kann die Arme wie Antennen ausfahren und sich Richtung Sonne drehen. Dann die Augen öffnen und ganz genau hinschauen, was im Wald passiert: Vielleicht krabbelt ein kleiner Käfer an Ihnen vorbei. Oder Sie sehen eine mächtige Wurzel, die langsam verrottet und bewundern die grün-silbrigen Farbenspiele der verschiedenen Moosarten…
Baum-Atmung
Suchen Sie sich einen Baum, der Sie anspricht. Setzen Sie unter ihn. Dann ein paar Minuten lang tief in den Bauch hineinatmen und sich dabei vorstellen: Ich empfange Sauerstoff vom Baum, dafür schenke ich ihm mein CO2 beim Ausatmen.

Barfußgehen
Diese Übung funktioniert wirklich ganz einfach. Ziehen Sie Ihre Schuhe und Strümpfe aus. Dann gehen Sie langsam und vorsichtig über den weichen Waldboden. Die Aufgabe dabei ist, seine Strukturen bewusst mit den Fußsohlen wahrzunehmen. Wie fühlt sich das Moos an? Weich oder struppig? Es geht aber nicht nur um diese sinnliche Erfahrung. Wissenschaftler der University of California fanden 2004 heraus, dass das Barfußgehen im Wald gesund ist: Die Erdoberfläche hat eine negative elektrische Ladung, unser Körper eine positive. Sobald wir mit den Füßen seinen feuchten und damit leitfähigen Boden berühren, findet ein Elektronenaustausch statt. Dieser soll wiederum unser vegetatives Nervensystem beruhigen.

Kommunikation mit dem Baum
Keine Frage, diese Übung hört sich erst mal ein bisschen gaga an. Mit einem Baum reden? Was soll denn das? Dazu muss man wissen: Wissenschaftler haben nachgewiesen haben, dass Bäume über Duftbotschaften und Pilze, die wie eine Art Glasfasernetz den Boden durchziehen, tatsächlich miteinander „sprechen“.
Auch wir können Teil dieses Wood-Wide-Webs werden, indem wir uns erst einen Baum suchen, der uns besonders anspricht. Dann gegen seinen Stamm lehnen oder die Hände auf seine Rinde legen. Vielleicht spüren Sie jetzt seine Stärke? Was löst das in Ihnen aus? Fühlen Sie sich geborgen und beschützt? Oder „reden“ Sie mit dem Baum. Erzählen Sie ihm, was Sie bedrückt oder beglückt. Bei dieser Übung tritt jeder so mit einem Baum in Beziehung, wie es sich individuell am besten anfühlt.
Wenn man seine Scheu vor der Übung abgelegt hat und sich auf sie einlässt, spürt man tatsächlich wie der Baum Kraft und Energie gibt. Aber wer weiß, vielleicht ist da auch meine Fantasie mit mir durchgegangen.
Falls Sie es ausprobieren, würde ich mich freuen, wenn Sie mir Ihre Erfahrung mit der Baum-Kommunikation schreiben.
Mehr über die Kommunikation zwischen Bäumen und über ihre Gefühlswelt - ja, die gibt es - erfahren Sie in "Das geheime Leben der Bäume" von Peter Wohlleben. Ich fand das Buch so spannend wie einen guten Krimi.
Wohlfühl-Oase: Das Chalet Mirabelle in Hafling, Südtiol

In der Dämmerung auf der großzügigen Terrasse des Fünf- Sterne-Hauses zu sitzen, ein gutes Glas Wein zu trinken und das Lichtspiel über den Bergen zu beobachten – das sind Momente, in denen der Rest der Welt ganz weit weg ist und alle Anspannung von einem abfällt. Danach schläft man wie ein Murmeltier in den bequemen Hotelbetten. Das „Chalet Mirabell“ ist wirklich ein idealer Ort für Stressgeplagte – nicht nur wegen Martins Waldbade-Seminar lernt man dort abzuschalten. Meditativ wirkt es auch, im wunderschön angelegten Garten des Hotels zu flanieren und den bunten Fischen im Koi-Teich zuzuschauen. Die Gastgeber, das Ehepaar Reiterer, bauen das Luxus-Refugium immer weiter aus. Mittlerweile gibt es ein Spa für Familien, in dem es auch mal etwas lauter zugehen darf. Dagegen herrscht im Spa für Erwachsene angenehme Ruhe.
Fotos: Hotel Chalet Mirabell (3), Ed Richter (5), Ellen Warstat (2)